Schwebende Verfahren
Zu den Zeichnungen von Renate Hesse
Das gegenstandslose Bild wirft durch seine
rhythmische Gliederung die einzige wichtige Frage
unserer Zeit auf: „Was ist Freiheit, was ist Willkür!“
Carl Buchheister, 1963
Bei der Betrachtung der Zeichnungen von Renate Hesse kommt auf eigentümliche Weise die Erinnerung an den satten, schwebenden Rauch einer Zigarre in den Sinn. Diese trägen, nur kurzzeitig existierenden Rauchwolkengebilde, die nach ihrem Auftritt unmittelbar mit ihrer Umgebung diffundieren, bilden wabernde, zarte Wolken, die zugleich aufsteigen und absacken. Sie sind nicht greifbar, doch außerordentlich präsent in ihrer Erscheinung. Das Wissen um ihre kurzlebige Natur begleitet jedes visuelle Nachfolgen. Ihr Charakter von gleichzeitiger Präsenz und Flüchtigkeit kommt den vegetativen Formgebilden von Renate Hesse sehr nahe und könnte Inspiration für ihre zeichnerischen Formulierungen gewesen sein. Die bezeichneten Blätter zeigen Bündelungen, oftmals zellartige Strukturen, die den Anschein haben, als würden sie ins Bild schweben oder sich alsbald aus der Enge des Formats herausbewegen, sich verformen und sogar auflösen. Bei vielen der Blätter entsteht der Eindruck als seien sie der Ausschnitt eines Kamerazooms. Linien kommen ins Bild und laufen, so scheint es, außerhalb des Bildes weiter. Dabei sind zwei Liniencharaktere zu unterscheiden, zum einen sind es Linien, die durch die freie gestische Bewegung der Hand oder des Armes formuliert wurden, zum anderen solche, die mittels Zeichengeräten konstruierte geometrische Figuren, Flächen- oder Raummarkierungen angeben. Wesentlich für Renate Hesses Bildkonzept ist das Arbeiten mit verschiedenen Gegenpolen, die auf der Fläche ins Verhältnis gesetzt werden. Informelle, organische Liniengeflechte werden mit streng geometrischen Strich- und Balkenelementen konterkariert, zarte Linien treffen auf massive Flächen, Linien- und Flächenformulierungen geben den Leerräumen ihre Bedeutung.
Auf der Fläche werden Verdichtungen aus Strich- und Farbkonzentrationen inszeniert, die zunächst dem formalen Prinzip des Automatismus, genauer, des Autographischen entstammen. Gestisches, “automatisches” Zeichnen, die von den Surrealisten propagierte Idee der “écriture automatique”, welche produktives Unbewusstes in den Bildern wirksam werden lässt, steht hier Pate. In einer zweiten Arbeitsphase erfolgen für die Künstlerin überdachte Gestaltungseingriffe, die Flächen und Formen, vegetative Strukturen mit markanten Linien und Balken in Beziehung setzen. Als bevorzugte Materialien kommen verschiedene Wachs- und Tuschestifte sowie Acryl-, Kohle- und Grafitstifte auf Karton und Papier zum Einsatz. Der zeichnerische Akt bewegt sich zwischen Fixierung und Loslassen, Bewegung und Ruhe, Zufall und Kontrolle - Aktion und Reflexion.
Als kunsthistorische Vorläufer haben Informel und Action Painting die Hand und den Arm durch die körperliche Gestik von der Dominanz des Auges befreit. Zunächst leitet die körperliche Motorik, der spontane Gestus den Weg des Stiftes auf dem Blatt Papier. Impulsiert von diesen methodischen Eröffnungen folgen für Renate Hesse weitere Schritte: das Setzen von Gegenpolen und das Arbeiten mit der Formatgrenze. Wenn ein Fadengespinst die Imagination wachruft, lässt sich das gezeichnete „Erscheinungsbild“ als ephemeres denken, so, als ob sich das Gespinst jederzeit auf der Bildfläche verformen und irgendwo neu ansiedeln oder schwebend aus dem Bildformat herausbewegen könnte. Mit aktiviertem Vorstellungsvermögen und angeregt durch die Potentialität der Bildkonstellationen wird der Betrachter Teil des Geschehens. Das Auge scheint mitunter über die Zeichnungen hinweg zu fliegen. Die klare Distanz wird aufgehoben. Was wir sehen, erscheint im Zustand einer Schwebe. „Das Bild (imago)“, sagt Gerhard Hoehme ist ein Überall.“ Und: „Es ist in Dir.“|
Marion Bertram
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| Gerhard Hoehme, „Die Schnur ist die plastische Form des Heraklit’schen Denkens“, in: In memoriam Gerhard Hoehme (1920-1989), Ausst.-Kat. Kunsthalle zu Kiel 1989, S. 38.
Text (auszugsweise) zum Katalog der Ausstellung "Scheinbar" im Güterbahnhof (Gleishalle) Bremen, 2015.